Bist du selbst in Trauer und hattest schon mal das Gefühl, keinen Platz mehr in unserem gesellschaftlichen System zu haben? Du fühlst dich wie ein Fehler im System und musst deine Trauer permanent verdrängen, um noch für das System funktionieren zu können. Als dein Trauerfall passiert ist, gab es um dich herum systematische Vorgehen. Manche davon liefen derart fehlerhaft ab, sodass sie deinen gesamten Trauerprozess erschwerten. In diesem Artikel schauen wir uns diese Fehler im System genauer an und an welcher Stelle wir uns als Gesellschaft zwangsläufig verbessern müssen, um einen Zusammenbruch zu verhindern. 

Als meine Schwester 2013 von ihrem Freund ermordet wurde, traf mich die Trauer mit einer Wucht, die ich bis dato noch nicht kannte. Ich lag am Boden und kam kaum noch auf. Wenn ich es geschafft hatte zu stehen, fühlte sich das Leben um mich herum an wie im Zeitraffer. Ich mittendrin, meine Bewegungen in Zeitlupe. Ich fühlte mich, als könnte ich nicht mehr mithalten. Egal ob in der Universität, bei der Arbeit, beim Treffen mit Freunden, in Gesprächen – ich fühlte mich wie ein Fehler im System.

Trauer passt nicht ins System

Heute weiß ich, nicht ich bin/war der Fehler, sondern das System selbst. Dabei meine ich es auf vielen Ebenen – gesellschaftlich, wirtschaftlich, gesundheitlich. Sie alle sind ausnahmslos verbunden. Trauer ist ein natürlicher, menschlicher Prozess, den es braucht um Verluste verarbeiten zu können. Trauer ist langsam, intensiv, braucht viele Ressourcen und genau das kollidiert mit unserem leistungsorientierten, schnelllebigen System. 

Wenn ein Trauerfall passiert, gibt es viel an organisatorischen Abläufen, die automatisch auf allen Systemebenen in Gang gesetzt werden. Dadurch kommt der trauernde Mensch in Kontakt mit den unterschiedlichsten Behörden, Anlaufstellen und Menschen. Die meisten davon sind selbst gefangen inmitten des schnelllebigen Drucks und müssen selbst wiederum funktionieren und Abläufe einhalten. Für Gefühle, wie Trauer mit all den Begleiterscheinungen (Tränen, Langsamkeit, Trägheit, Erschöpfung, Konzentrationsschwierigkeiten etc.) ist da kein Platz oder Verständnis. Denn das System muss am Laufen gehalten werden und es hängen doch noch so viele andere Menschen, Behörden und Anlaufstellen dran. 

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Doch, wenn kein Platz für ein Mitfühlen da ist, und Prozesse mit einer Standardhaltung schnell und unachtsam durchgeführt werden, kann das für die trauernde Person zu einem erschwerten Trauerprozess führen, in manchen Fällen sogar traumatisierend wirken. Das wiederum hat dauerhaft Folgen auf das gesamte System. Denn die Person könnte aus dem System für eine viel längere Zeit rausfallen (Depressionen, Burnout), als es „nur“ bei Trauer wäre. Tja und das wiederum hat natürlich dauerhaft fatale Folgen für uns alle und das gesamte System. Aber lass uns ein paar Praxisbeispiele anschauen aus meinem Alltag und auch aus Erlebnisberichten von SeelenSport® Trainerinnen. 

Fehler: Medien

Bei einem Mord, wie im Fall meiner Schwester gab es den Fehler der medialen Berichterstattung. Beinahe wöchentlich kamen Artikel und Radiobeiträge darüber, wie qualvoll meine Schwester sterben musste. Vieles wusste ich selbst noch nicht mal und erfuhr es über Dritte durch all diese Berichte. Fotos von mir am Sarg meiner Schwester erschienen in Zeitungen, falsche Texte und Aussagen, Headlines, die nur verletzten und verharmlosten (Tragödie). 

Vorschlag: Realistische/aufklärende statt reißerische Berichterstattung, nicht bis ins kleinste Detail berichten müssen, Hilfsangebote am Ende setzen. 

Fehler: schlecht ausgebildete Ersthelfer*innen

Ein Kriseninterventionsteam ist der erste Kontakt, den Trauernde oft haben. Sie sollten möglichst gut ausgebildet sein. Eine Person hat ihre für zwei Wochen verschwundene Katze mit dem Mord an meiner Schwester fünf Minuten nachdem ich erfahren habe, was passiert war, verglichen. Andere berichten zb. davon, dass ihre Kinder zum Sarg des verstorbenen Papas hin gezwungen wurden ohne Beisein der Mutter. 

Vorschlag: Stetige Fortbildungen noch weiter ausbauen und auch Trauernde mit langem Abstand zum Trauerfall und deren Erfahrungen mit einbeziehen. Eine Art Feedbackgespräch/Formular nach einer gewissen Zeit anbieten, um herauszufinden, wie die Begleitung damals angenommen wurde. 

Fehler: Beweismaterialien/Abschied

In manchen Fällen braucht es bestimmte Gegenstände etc. als Beweismaterialien. Larissas Körperschmuck war ein solches Beweismaterial. Wir konnten uns von ihrem Körper nie verabschieden, da sie über vier Wochen im Wasser lag und uns davon abgeraten wurde (auch ein Fehler – keine Alternative wurde angeboten bzw. zu wenig aufgeklärt). Das Material war also der erste Beweis, dass es sich wirklich um sie handelte. Monate nach der Beerdigung haben wir (meine Schwester Mara und ich) das in einem Gang bei der Kriminalpolizei an einem kleinen Stehtisch hingeworfen bekommen, als wäre es nichts. Wir hätten beide beinahe auf den Tisch erbrochen, so intensiv war dieses Erlebnis. 

Vorschlag: Aufklären, was genau übergeben wird und anbieten (d)eine professionelle Begleitung mitzunehmen, einen angemessenen Ort dafür auswählen und sensibler übergeben. Andere Abschiedsmöglichkeiten und Rituale anbieten, anstatt einfach strikt davon abzuraten. 

Fehler: Schmerzensgeldgutachten

Anhand eines Gutachtens wurde bei uns einzeln festgestellt, inwieweit der Tod meiner Schwester uns im Alltag erschütterte. Ich war 1,5 h bei einer Psychologin drin und bekam 4000 €, so wie auch der Rest meiner Familie. Nur meine Schwester Anna hatte ein kurzes 10 Minuten Gespräch und bekam 0 €. Dabei ging es nie ums Geld, sondern dass von außen eine fremde Person behauptete ihr sei der Tod der Schwester praktisch egal und dieser würde sie nicht in ihrem Alltag weiter beeinflussen. Das stimmte natürlich überhaupt nicht. Heute noch hat sie damit Probleme und kann schwerer ihre Trauer zulassen, weil sie das Gefühl hat nicht trauern zu dürfen aufgrund des Gutachtens.

Vorschlag: Gutachter*innen sollten immer mit den aktuellen Therapeut*innen (da hatten wir mehrere, die uns als Familie und Einzelpersonen bereits behandelten und kannten) den Trauerverlauf oder die Geschehnisse absprechen. Es sollte eine klare und einheitliche Vorgabe rund um Fragen und Zeit geben.

Fehler: Tablettenvergabe

Ich habe mittlerweile schon mehrere hunderte trauernde Menschen begleitet. Dabei ist mir eines vor allem aufgefallen und hat mich schockiert. Kurz nach der Beerdigung, wenn sich Trauernde erschöpft und ausgelaugt vom Trauern fühlen, wieder arbeiten wollen oder zumindest sich „besser“ fühlen möchten wenden sie sich an den Arzt ihres Vertrauens. Viel zu häufig werden dann Antidepressiva verschrieben. Es erleichtert den Moment vielleicht, aber die Trauer wird dadurch nicht einfach weggemacht. Sie verhindern den natürlichen Trauerprozess und er wird schlichtweg einfach „pausiert“ und nach hinten verschoben. Wenn die Tabletten also abgesetzt werden, setzt die Trauer wieder mit voller Wucht ein. Doch das System hat dann noch weniger Verständnis dafür. Ein Teufelskreislauf. 

Vorschlag: Ganzheitlich denken und erklären, was Trauer für den Körper bedeutet und wie wichtig diese ist und vor allem sie auszuleben. Verweisen auf Trauerbegleiter oder andere Menschen, die mit Trauernden arbeiten. 

Fehler: bei Kindstod

Bevor die trauernde Person auch nur annähernd den Verlust des Kindes begreifen und verarbeiten kann, wird diese meist mit unangenehmen Behördengängen konfrontiert. Betreuungsgelder sind ad hoc gestrichen, Gemeinden holen sofort die Windeltonne zurück, manche vermerken oft nicht, dass das Kind verstorben ist und schicken dann einen Brief zum Kindergarteneingang. Karenz ist sofort beendet und man müsste sofort wieder voll arbeiten. Bei verstorbenen Babys im Krankenhaus oft zu wenig Aufklärung über das weitere Vorgehen, sodass Geschwister keine Möglichkeit hatten, sich vom verstorbenen Kind zu verabschieden. Fehlende Rückbildungsmöglichkeiten für Sternenmamas, Ausbleiben der Wiedereingliederung auf dem Arbeitsmarkt, wenn vorher selbstständig gewesen. 

Vorschlag: Für viele nicht unmittelbar notwendige Behördengänge einen Zeitraum bekommen, sodass der erste Schock überstanden ist oder eine professionelle Person (wie z.B. eine Hebamme, die eine Zeit lang nach Hause kommt und nach der Geburt unterstützt) zur Seite stellen, die Schritt für Schritt genau das mit einem durcharbeitet und an vielen Stellen unterstützt. Dann würde man sich die Wartezeiten in den Behörden vor Ort ersparen und die Gespräche zwischen Tür und Angel oder an Tresen mit ungeduldigen, gestressten Mitarbeitenden. 

Fehler: bei Sonderurlaub

Je nach Verwandtschaftsgrad steht einem nach einem Todesfall ein paar Tage Sonderurlaub zu. Natürlich reicht das meist nicht mal, um die Beerdigung zu planen und zu organisieren, geschweige denn mit dem ersten Schock klarzukommen. Trauernde müssen sich dann schnell krankschreiben lassen oder eben aus schlechtem Gewissen meist wieder zurück in die Arbeit hetzen. An der Stelle gibt es dann nur selten eine Möglichkeit zur langsamen Wiedereingliederung.

Vorschlag: Eine Art Trauerauszeit, die man für sich wählen darf. Bei zurückkommen auf den Arbeitsplatz Möglichkeiten der Eingliederung geben und nachfragen, wie eine Zusammenarbeit wieder stattfinden könnte, sodass die Person gesund ihren Trauerprozess gehen kann und gleichzeitig das Unternehmen aber nicht leidet. Unternehmen können sich hierbei auch Trauerbegleiter holen, die beraten können.

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Fehler: Trauer als Krankheit

Seit Anfang 2022 wurde ein neues Krankheitsbild in die ICD-11 erfasst – die anhaltende Trauerstörung. Enthaltene Diagnosekriterien sind hierbei: starkes Verlangen nach der verstorbenen Person, anhaltende Beschäftigung mit der verstorbenen Person, begleitet von Gefühlen wie Wut, Trauer, Schuld, sich selbst verloren haben und anderen. Zeitliche Voraussetzung für die Diagnose: 6 Monate. Ich war schlichtweg schockiert. Demnach würde bedeuten, dass ich und all die trauernden Menschen, die ich kenne und begleiten durfte krank sind/waren. Was natürlich völliger Quatsch ist.* Denn ein natürlicher, gesunder Trauerprozess dauert immer länger als 6 Monate und ist ohnehin nie ganz abgeschlossen. Das, was krank macht ist das System, welches die menschlichen Trauerreaktionen nicht erlaubt und als Krankheit betitelt. 

*Es gibt klarerweise auch traumatische Verluste, bei denen nicht der Tod das Traumatische an sich ist, sondern die Umstände, also Art des Todes zb. Erschwerte Voraussetzungen für den Trauerprozess können auch da sein, zb. eine bereits diagnostizierte Depression, die es schon vorher gab. Doch auch da, die Trauer an sich ist dann nicht das Problem.

Vorteil?

Der einzige Vorteil daran ist, dass Trauernde dadurch im System selbst schneller (Wartezeit bis zu 6 Monate) oder überhaupt an professionelle Hilfe kommen (Therapien, Rehas) und diese auch zum Teil bezahlt werden. Aber da ist dann genau das System wieder der Fehler, dass das nicht präventiv möglich ist einfach wenn wir trauern, sondern nur im Zuge eines erstellten Krankheitsbildes. Diese Diagnose ist eine Gefahr für die Gesellschaft und ihr Bild von Trauer, einem komplett natürlichen Gefühl.  Es wird suggeriert, dass Trauer länger als 6 Monate unnatürlich ist und eine Störung sei, eine Krankheit und damit sind trauernde Menschen stigmatisiert. 

Was trauernde Menschen wirklich krank macht: Der Umgang in der Spaß-Gesellschaft mit schweren Themen und Gefühlen. Floskeln, die wie eine Watsche ins Gesicht schlagen. Der Druck, dem Trauernde ausgesetzt sind, wieder zu 100 % funktionieren zu müssen. Dieselbe Leistung wie vor dem Verlust erbringen zu müssen, und dass ihnen keine Langsamkeit und schwachen Momente zugestanden werden. Dass die meisten eine Maske tragen müssen und ihre Gefühle verstecken und unterdrücken aus Angst vor Jobverlust oder sozialer Ausgrenzung. Genau das und noch so viele Faktoren mehr macht trauernde Menschen krank, da der Körper zunehmend auf das Unterdrücken der Trauer reagiert und irgendwann nicht mehr kann. 

Daraus können Depressionen, Burnout, Angststörungen resultieren – nicht aber wegen der Trauer selbst, sondern weil wir Trauernde zu lange, zu intensiv dagegen ankämpfen müssen und sie nicht erlauben dürfen! 

Die meisten denken immer: betrifft mich eh nicht. Doch Trauer betrifft uns alle, im kleinen und großen irgendwann. Davor können wir nicht fliehen und werden uns zwangsläufig früher oder später stellen müssen. 

Nicht die Trauer ist der Fehler

Nicht die Trauer ist also der Fehler, sondern unser aller Umgang damit – gesellschaftlich, wirtschaftlich und gesundheitlich. 

Vorschlag: Wie wäre es einfach mal ein paar Schritte langsamer zu gehen, Mitgefühl zu entwickeln mit sich und der Umwelt und der Trauer ihren Raum zu geben, den sie braucht, denn sie verbindet uns alle. 

Vielleicht hat dir der Artikel ein wenig die Augen geöffnet und dich für das Thema sensibilisiert. Es waren nur ein paar Auszüge aus der Fehlerkartei und es gibt mittlerweile zum Glück immer mehr Menschen, die helfen diesen Fehlern entgegen zu wirken, sodass Trauer wieder ihren natürlichen Platz finden darf inmitten der Gesellschaft. Danke an alle da draußen, die dafür kämpfen! 

Du bist trauernd? Dann möchte ich dir nochmal deutlich sagen: Du trauerst gut, wie du trauerst! 

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